
Marvel Comics
Verraten und verkauft. Für nicht mehr als einen Schuss in die Venen. Karen Page ist nach ihrer Filmkarriere abgestürzt, jetzt ist sie ein Junkie. Und so kommt es, dass sie ihrem Dealer für den nächsten Kick verrät, wer hinter der Maske des Vigilanten Daredevil steckt: der Anwalt Matt Murdock, ihr Ex-Freund. Die Nachricht macht die Runde, bis hoch zum Kingpin, dem in jeder Hinsicht schwergewichtigen Gangsterboss. Er lässt zunächst alle umbringen, die von dem Umschlag mit dem Namen wissen, auch Karen gerät ins Visier. Dann geht er auf seinen Erzfeind los. Aber nicht, indem er ihn umbringt oder wenigstens öffentlich bloßstellt, nein, viel fieser: Der Kingpin vernichtet Daredevil systematisch, indem er ihm sein Leben zur Hölle macht.
Er ruiniert Murdocks Ruf, indem er einen Polizisten zu einer Falschaussage gegen ihn zwingt, sodass der Anwalt seine Zulassung verliert. Er friert Murdocks Konten ein, indem er die Finanzbehörde auf ihn hetzt. Schließlich lässt er Murdocks Haus in die Luft jagen. Der Vigilant wird zum Vagabunden. Er lässt sich gehen, ziel- und mittellos streift er umher, landet in der Gosse, wird vom Kingpin im Kampf zusammengeschlagen und von einem falschen Weihnachtsmann abgestochen. Tiefer kann man nicht fallen.
Frank Miller in Bestform
Der Comic Born Again, von Frank Miller und David Mazzucchelli, ist nicht bloß eine Leidensgeschichte, es die Passionsgeschichte schlechthin: vom Judas-Verrat über den Nahtod bis hin zur Pietà und der glorreichen Auferstehung, so der deutsche Titel. Daredevil, ein Selbstgerechter im Teufelskostüm, als Jesus-Figur. Nicht nur wegen dieses gewagten Konzepts gilt die Geschichte zu Recht als einer der besten Daredevil-, Marvel- und Superhelden-Storys, obwohl man die meiste Zeit den Superhelden kaum in Action sieht – und obwohl an diesem Helden zunächst wenig super ist. Der Rotmaskierte von einstmals, der blind war aber mit geschärften Sinnen Schurken bekämpfte, ergeht sich in seinem Schicksal, er verliert sich selbst. In einer der besten Sequenzen hockt Murdock in einem kleinen gemieteten Zimmer einer Bruchbude und grübelt sich in Rage über den Kingpin, beschließt, ihn zu töten, dann besinnt er sich, will ihn nur verprügeln, und obwohl die Entscheidung mit dem Türknauf näher rückt, sieht man ihn im letzten Panel auf dem Bett liegen und denken: „I’m tired.“ Bei Miller sind Superhelden stets gebrochene Typen mit Selbstzweifeln und Todessehnsucht.
Der Autor war Mitte der 80er Jahre, als Born Again entstand, in Bestform. In dieser Zeit schuf er mit The Dark Knight Returns und Year One auch zwei Klassiker für DC, über Batmans Ende und Anfang. Miller ist ein Meister des Erzählens mit Bildern und Worten. Er versteht es, das Innenleben seiner Charaktere in wenigen, harten Sätzen zu beschreiben, er drängt sie an ihre Grenzen und darüber hinaus, er hat ein Gespür für Spannungsaufbau mit Panels. Grandios ist geradezu eine vertikale Sequenz in der der Reporter Ben Urich am Telefon hört, wie ein Zeuge erdrosselt wird, während in der Redaktion die ahnungslosen Kollegen auf ihn einreden. Wir kommen seinem Gesicht immer näher, bis es am Ende fassungslos erstarrt ist und rot glüht. „Thank you for listening“, sagt die abgebrühte Mörderin am anderen Ende der Leitung. Nichts geht an den Figuren spurlos vorbei. Bei aller Härte verliert Miller nie den Bezug zur Menschlichkeit, im Gegenteil: gerade in den schlimmsten Situationen zeigt sich das, was den Menschen ausmacht. Im Verlauf der Jahre, als Miller zynischer wurde, ging ihm dieses Talent leider verloren.
Finale mit zwei Superpatrioten
Trotz seiner zum Teil überdeutlichen christlichen Symbolik ist Born Again auf den ersten 120 Seiten am gelungensten, bis der Held eine Art Kampf gegen eine Art böses Zerrbild seiner selbst führt – und damit buchstäblich gegen den Teufel. Leider flacht die Story in den letzten beiden Akten ab. Im Finale tritt Daredevil gegen den fanatisch-patriotischen Supersoldaten Nuke an, der vom Kingpin darauf angesetzt wird, den Helden zu töten. Nuke ist alles andere als ein interessanter Gegner mit Charaktertiefe, vielmehr das Klischee des tumben, waffenvernarrten Rednecks, der sich mit Aufputschmitteln in blinde Schießwut bringt. Und mit den Stars und Stripes im Gesicht ist er auch nicht gerade das Eichmaß des Subtilen. Das Problem an diesem Teil ist, dass der persönliche Bezug zwischen Held und Schurke fehlt. Dass am Ende auch noch das Gegengewicht, der Superpatriot Captain America auftaucht und zusammen mit den Avengers Thor und Iron Man, Aushilfspolizei spielt, ist erst recht zu viel des Guten. Auch dadurch verliert sich der Fokus der Story und damit die eigentliche Stärke, dass die inneren und äußeren Konflikte so tiefgreifende Folgen für die Charaktere haben.
Trotz dieser Schwäche ist Born Again ein überaus lesenwerter Comic und ist in 30 Jahren gut gealtert. Es hat nichts von seinen Qualitäten eingebüßt. Für Fans von Frank Miller ist das Werk ein Muss, für Daredevil-Neulinge ein perfekter Einstieg. Ursprünglich war geplant, die Story zu verfilmen, als Fortsetzung des ersten Daredevil-Films von 2003 mit Ben Affleck in der Titelrolle. Doch nachdem schon der erste Teil gefloppt war, ließ man von dem Plan ab. Dafür diente die Story als Inspiration für die dritte Staffel der Daredevil-Netflix-Serie.
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